Lesen und Lernen: Bildung im Mittelalter
In den klösterlichen Schreibstuben leisteten unzählige Mönche und Nonnen also einen unerlässlichen Beitrag zur Verbreitung des Glaubens. Sie erleichterten damit allen Gläubigen den Weg zu Gott, kurz: auch sie missionierten und betrieben Katechese. Zugleich leisteten Klosterleute wie Godehard einen fundamentalen Beitrag zur Entwicklung von Bildung, wie sie die Moderne als Grundrecht des Einzelnen und Kernbestandteil von Gesellschaft hervorgebracht hat, auch wenn sie dies so nicht beabsichtigt hatten.
Davon zeugt bereits der Umstand, dass man im Mittelalter keinen eigenen Begriff für Bildung kannte. Denn die in dieser Epoche entwickelten Methoden (des Wissensprozesses) verfolgten primär andere Ziele. Sie waren ganz maßgeblich von dem spätantiken römischen Politiker und Gelehrten Cassiodor (ca. 485 bis ca. 580) und seiner etwa zwischen 551 und 562 verfassten „Anleitung zum Studium der hl. Schriften“ geprägt.
Personen und Traditionen
Wie der Werktitel es bereits andeutet, beinhaltete die von Cassiodor formulierte Lernmethode die lectio, also die Lektüre der biblischen Schriften, zunächst der Psalmen und anschließend das Alte und Neue Testament. Diese Lektüre bedeutete wiederholtes Lesen und Einprägen, das zur Meditation überleitete. Es ging also nicht um distanziertes, kritisches Hinterfragen, sondern um ein spirituelles Verinnerlichen. Dieser Unterricht erfolgte im individuellen Studium der Texte, vor allem aber in der Weitergabe von einem Lehrer an die Schüler. Praktisch las der Lehrer vor, kommentierte gegebenenfalls, und die Schüler hörten zu oder notierten auch etwas.
Diese Pädagogik diente der moralischen Erziehung, so dass die Klosterschüler zu vorbildlichen Christen bzw. Brüdern erzogen wurden; das dabei vermittelte Wissen im Sinn von Informationen war nicht unerlässlich, aber nachgeordnet. Unterricht als personaler Prozess zwischen einem Lehrer und seinen Schülern repräsentierte die hohe Wertschätzung, die man dem Autor als Lehrautorität beimaß. Denn eigentlich lehrte der Autor selbst, während ihm der Lehrer durch sein Vorlesen lediglich seine Stimme lieh. Diese Vorstellung macht die Darstellung des Albertus Magnus als Lehrer vor Schüler anschaulich, die metaphorisch und nicht als Abbildung einer realen Situation angelegt ist.
Lesen als Lebenswende
Auch Godehard erfuhr eine solche ‚klassische‘ Bildung, seit er als Junge von vielleicht sechs oder sieben Jahren in die Klosterschule von Niederaltaich aufgenommen wurde. Der Eintritt des Jungen war eine persönliche Übergabe an den Lehrer . Dieser vermittelte Godehard von nun das, was dieser wie die anderen Schüler in ungezählten Stunden des Zuhörens und Wiederholens lernen sollten. Darüber hinaus konnten und durften die Jungen allein lectio betreiben, also ihnen bereits bekannte Texte lesen und dadurch vertiefend-meditativ einprägen. Godehards bevorzugte Lektüre unter den im Plan vorgesehenen Autoritäten waren offenbar die Heiligenviten, und unter ihnen wiederum bevorzugte er die Lebensbeschreibung Martins von Tours.
Nach dem Zeugnis der älteren Vita erfuhr Godehard nach deren lectio eine Art Konversionserlebnis, die sein Leben grundlegend verändert habe. Wenn ihn dafür Wolfhere, der Autor, dafür nach dem Vorbild Martins in die Einsamkeit – hier der benachbarten Wälder – schickte, unterstreicht er nicht zuletzt den spirituellen Gehalt von zeitgenössischem Wissen, vor allem jedoch dessen Bedeutung für seinen Protagonisten als inneren Kompass.
Bischöfe und Bildung: mittelalterliche Domschulen
Auch am Sitz eines Bischofs entwickelten sich Schulen. Sie dienten ursprünglich und lange ausschließlich der Ausbildung der Kleriker, die den Bischof bei der Erfüllung seiner Aufgaben unterstützten, insbesondere bei der Feier von Gottesdiensten. Auch hier brauchte man Texte, also Manuskripte, die das notwendige Know How überlieferter Autoritäten vermittelten, des Weiteren aber auch liturgische Bücher, um überhaupt Gottesdienste regelkonform und damit gültig feiern zu können. Seit der Regierungszeit der Karolinger im frühen 9. Jahrhundert waren die Bischöfe zur Unterhaltung solcher Domschulen verpflichtet.
Doch dort ging es nicht nur um die Vermittlung von liturgischem Wissen an die Schüler als künftige Geistliche. Vielmehr sollte dem Klerikernachwuchs am Dom auch eine vorbildliche Lebensweise vermittelt werden. Ähnlich wie in den Klöstern existierte dafür ein Regelwerk, das bereits Bischof Chrodegang von Metz (742-745), angelehnt an die Benediktsregel, verfasst hatte und das zeitgleich mit der Verpflichtung zur Einrichtung von Domschulen (durch eine Synode 816) festgelegt worden war. In Hildesheim hat man diese Bildungsinfrastruktur vermutlich von Anfang an umgesetzt – darauf lässt der Dombau des zweiten Bischofs Altfried (851-874) schließen, der eine klösterliche Anlage für das Gemeinschaftsleben der Domkleriker beinhaltet; zudem wird Altfried in der Bistumsüberlieferung disziplinarische Strenge zugeschrieben.
Seit dem 10. Jahrhundert vermehrte sich die Anzahl der Domschulen im Reichsgebiet stetig. Denn sie wurden von den nunmehr regierenden Ottonen zunehmend als personelles und fachliches Reservoir für die Infrastruktur des eigenen Hofes genutzt. Domkleriker wechselten an die Hofkapelle, zugleich zogen Hofkapläne in die Domkapitel und wurden sogar Bischöfe. Unter diesen Bedingungen etablierte sich die Hildesheimer Domschule fachlich und politisch als Spitzeneinrichtung. Ihr herausragender Ruf ist vor allem auch mit dem Vorgänger Godehards als Bischof von Hildesheim, Bernward (993-1022), verbunden.