Viten
Viten, also fromme, erbauliche Lebensbeschreibungen von Heiligen, bilden die im Mittelalter verbreitetste Literaturgattung, und zwar mit Blick auf die Werke wie auch die erhaltenen Handschriften aus dieser Epoche. Ihre Popularität blieb bis weit in die Neuzeit erhalten, gemessen an dem Anteil, den sie unter den nunmehr gedruckten Titeln eines neuartigen, europäisch vernetzten Buchmarktes einnahmen. Sie fehlten in keiner Klosterbibliothek, und in der gängigen Bibliothekssystematik hatten sie einen festen Platz an der vierten, für die historischen Werke vorgesehen Stelle.
Anders als moderne Biographien bedienten mittelalterliche Viten nicht in erster Linie das Bedürfnis nach Unterhaltung. Vielmehr waren sie ein fester Bestandteil der Spiritualität der Epoche, der bis weit in die Glaubenspraxis der Neuzeit erhalten blieb. Sie dienten grundsätzlich der Erinnerung an eine in der Regel vorbildliche, ja herausragende Persönlichkeit, die für andere Christen als Vorbild wirkte und aufgrund dieser ihrer Verdienste dafür deren Gebetshilfe erwarten konnte.
Daher waren Viten ein unverzichtbarer Bestandteil des Gebetsgedenkens an Verstorbene, sei es in der persönlichen Praxis, sei es in der gemeinschaftlichen oder gemeindlichen Liturgie; sie wurden darüber als Grundlage für Kanonisationsverfahren sowie als Leitfaden für frisch investierte Bischöfe eingesetzt. Die Liste der Verwendungsmöglichkeiten ließe sich fast beliebig verlängern; sie zeigt, dass Viten immer auch ganz konkreten Entstehungs- und Nutzungsbedingungen entsprachen.
Bischof Godehard wurde mit zwei Lebensbeschreibungen gewürdigt. Sie wurden noch zu Lebzeiten bzw. wenige Jahre nach dessen Tod von dem Hildesheimer Domherrn Wolfhere verfasst. Der gebürtige Sachse kannte den Bischof persönlich: dieser ließ ihn im Kloster Hersfeld sowie in Niederaltaich zusammen mit seinem Neffen Ratmund ausbilden. Im Anschluss kehrte Wolfhere nach Hildesheim zurück und diente dem Bischof als dessen Vertrauter.
Den Anstoß, die Lebensbeschreibung Godehards zu verfassen, gab Wolfheres ehemaliger Mitschüler Ratmund, der inzwischen selbst Abt in Niederaltaich (1028-1049) geworden war, vielleicht noch zu Lebzeiten des Onkels um 1035 oder kurz nach dessen Tod 1038 (sog. Vita prior). Etwa zwei Jahrzehnte später überarbeitete Wolfere den Text erheblich zu einer sog. Vita posterior.
Aufgrund der Unterschiede zwischen den Textfassungen in Verbindung mit jeweils völlig anders gelagerten Überlieferungssträngen der erhaltenen Manuskripte muss man von unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen für beide Fassungen ausgehen:
Während die Vita prior lediglich in einer einzigen Handschrift erhalten blieb, also wohl so gut wie unbekannt war, gibt es von der Vita posterior zahlreiche mittelalterliche Abschriften. Mit Beginn des Buchdrucks fand diese Lebensbeschreibung Godehards auch Zugang zum Buchmarkt und erschloss ein noch größeres Publikum.
Zugleich blieb die Tradition handgeschriebener Kopien besonders in Hildesheim erhalten, wie die beiden folgenden Objekte zeigen.