Pilgerbericht
Hs 764
Notabilia de Terra sancta
Johannes von Hildesheim: Gesta et translationes trium regum u.a.
Handschrift, Papier, Pergament;. 15. Jhd.
Bei diesem im 15. Jahrhundert entstandenen und im Hildesheimer Lüchtenhof gebundenen Codex aus dem Besitz des Godehardiklosters handelt es sich um eine Zusammenstellung ganz unterschiedlicher Texte.
Die umfangreichsten sind eine „moderne“ Reisebeschreibung ins Heilige Land (Intinerarium modernum) sowie Johannes‘ von Hildesheim „Taten der Heiligen Könige“; sie sind an den Anfang gestellt und nehmen ca. vier Fünftel des gesamten Bandes ein.
Das Inhaltsverzeichnis auf dem Vorsatzblatt erleichtert die Übersicht; es wurde offensichtlich vom Klosterbibliothekar angelegt, der auch dem Besitzeintrag Liber monasterii sancti Godehardi prope et extra muros Hildensemenses ordinis sancti Benedicti vornahm.
Der Vorderdeckel trägt das passende Signaturschild E.
Bei der „Modernen Reisebeschreibung“ handelt es sich um eine verkürzte Fassung von Ludolfs von Sudheim De itinere terrae sanctae. Ludolf nannte sich eigentlich clipeator, dt. „Schilder“, was auf die Herkunft aus einer Handwerkerfamilie verweist. Benannt wird Ludolf auch nach dem Ort Sudheim, einem (heute nicht mehr existierenden) westfälischen Dorf, in dem er von 1340 bis 1361 rector ecclesiae, also Pfarrer war.
Die „Reisebeschreibung ins Heilige Land“ erfüllt nicht unbedingt die Erwartungen, die heute mit diesem Genre verbunden sind. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen, inhaltlich sehr stark an dem ähnlichen Bericht Wilhelms von Bodensele orientierten Pilgerführer. Dies mag erstaunen, da Ludolf tatsächlich selbst eine solche Reise unternommen hatte. Fünf Jahre war er zwischen 1336 und 1341 als Kaplan eines Ritters aus der Gefolgschaft des Königs von Armenien unterwegs ins Heilige Land. Zu diesem Zeitpunkt war Konstantinopel, das als eines der Zwischenziele diente, seit kurzem unter türkischer Herrschaft, Palästina seit geraumer Zeit unter ägyptischer Herrschaft. Ludolfs Werk liegt in zwei Fassungen vor, wurde oft kopiert und war daher weit verbreitet.
Das zweite Werk des Codex, die Gesta et translationes trium regum, wurden von dem zwischen 1310 und 1320 in Hildesheim geborenen Johannes verfasst. Dieser verbrachte sein Leben im Karmeliterorden, wo er als Lehrer sowie in verschiedenen Leitungspositionen wirkte. Er studierte in Ordensniederlassungen in Avignon und Paris, wo er darüber hinaus auch als Lehrer tätig war; zwischenzeitlich wirkte er als Procurator der Niederdeutschen Provinz des Ordens, es folgten Stationen in Kassel, Straßburg, Speyer und schließlich bis zu seinem Tod 1375 als Prior in Marienau in der Nähe von Hameln.
Johannes von Hildesheim hinterließ etliche theologische, philosophische und dichterische Werke, darunter die „Geschichte der drei (heiligen) Könige, die er vielleicht zwischen 1364 und 1375 aus Anlass des 200. Jahrestages der Übertragung der Reliquien nach Köln im Auftrag des damaligen Domherrn Florenz von Wevelinghoven (seit1364 Bischof von Münster) verfasste. Diesem ist das Werk auch gewidmet.
Johannes Schrift liefert eine der vielen Versionen der berühmten Geschichte, des Weiteren Informationen über die Reliquien sowie deren Übertragung nach Köln (Translatio). Auch seine Fassung fand eine weite Verbreitung und erfuhr mehrere Versionen. Am Ende dieser Fassung des Godehardiklosters trägt sich der Schreiber ein, ein Theodoricus Lovensis aus Alfeld.
Der Band enthält außerdem den „Traktat gegen die Pest“, der von Jean Jacmé, einem Arzt und Professor der Medizin in Montpellier (gest.1384) verfasst worden ist, sowie einen (fragmentarischen) „Traktat über den Aderlass“. Zwei im weitesten Sinn kanonistische Texte vervollständigen den Band: das Decretum abbreviatum des Johannes de Deo, auch genannt Hispanus, ein portugiesischer Lehrer des kanonischen Rechts an der Universität Bologna, sowie ein Kapitelbeschluss der Benediktinerprovinz Mainz-Bamberg vom 26. April 1439.
Dieser Band wurde nicht in der eigenen Klosterwerkstatt, sondern jener des nahe gelegenen Lüchtenhofs gebunden. Dort lebte die Gemeinschaft der Brüder vom Gemeinsamen Leben, die aus der zeitgenössischen Bewegung der Devotio moderna hervorgegangen war. Ihr Anliegen war es, Religiosität zeitgemäß, „modern“ zu leben und dabei die sich im Spätmittelalter vertiefenden Gegensätze von Laien und Geistlichkeit und zugleich innerhalb des Klerus zwischen Weltgeistlichen und Ordensleuten zu entschärfen.
Im Kern sollte auf diese Weise die christliche Urgemeinde wiederbelebt werden und ein Gemeinschaftsleben von Laien nach dem Vorbild Christi umgesetzt werden, ohne die Verantwortung als Christen in der Welt aufzugeben. Die Brüder vom Gemeinsamen Leben hatten sich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, zum Teil gegen deutliche Widerstände, in der Stadtgesellschaft in Hildesheim etabliert und im Lüchtenhof, den sie vom Domklerus erwerben konnten, eine Bleibe gefunden, d.h. einen Ort, an dem sie ihren Lebensentwurf verwirklichen konnten.
Das Anfertigen von Büchern war Ausdruck ihrer Spiritualität, mit dem sie Jesus gleichsam als „Schriftapostel“ folgten, und es diente zugleich dem Lebensunterhalt. Der hohe Rang der Schrift als Richtschnur eines an Christi Vorbild orientierten Lebens war generell in der Devotio moderna verankert. Wie weit er von den Normen in die Praxis und insbesondere in den expandierenden Buchmarkt des Spätmittelalters tatsächlich umgesetzt wurde, lässt sich nicht wirklich ermitteln, weil quantitative Quellen rar sind.
Sicher erschwerte der Buchdruck den wirtschaftlichen und spirituellen Erfolg des Buchhandwerks der Fraterherren. Während das handschriftliche Kopieren immer weiter an Bedeutung verlor, behaupteten sich die Brüder immerhin noch bis ins 16. Jh. durch Bindearbeiten, gerade auch für Druckwerke, die ja ohne Einbände gehandelt wurden.